Neulich nach Feierabend wollte ich mir eigentlich eine entspannende Dusche gönnen, doch musste ich mein ursprüngliches Vorhaben zurückstecken, als ich mein Bad unterm Dach zu betreten versuchte. Zuerst fielen mir tausende feinste Glassplitter auf den Bodenfliesen auf und mein Blick ging zunächst besorgt in Richtung Dachfenster, das sich aber schnell als völlig in intakt erwies. Ungläubig stellte ich fest, dass der Grund für die Glitzerpracht auf dem Fußboden wohl von einer halbierten Glaswand der Duschkabine herrührte, die sich wohl in meiner Abwesenheit in ein bizarres, scharfkantiges transparentes Puzzle mit 20.000 Teilen verwandelt hatte.
Während ich das zerbrechliche Reststück und die winterlich glitzernd anmutende Fliesenfläche darunter anstarrte, musste ich davon ausgehen, dass das Chaos in meinem persönlichen Wellnesstempel wohl ohne Fremdverschulden in meiner Abwesenheit angerichtet worden sei. Das Bad war vor acht jahren renoviert worden und hatte bis zum Tag der Selbstzerstörung unauffällig ein angenehmes Ambiente für die alltägliche Körperpflege gestellt.
Nach ein paar Stunden Splittersuche mit Eimer, Besen und dicken Rindsleder-Handschuhen stellte ich einen Plan zur schnellstmöglichen Beseitigung des Dilemmas zusammen. Zuerst den Glaser vor Ort um ein Angebot anfragen. Nachdem ich noch am selben Tag die erkleckliche Summe in meiner Mailbox fand, stellte sich natürlich gleich die Frage, ob es sich hierbei um einen Versicherungsfall handele, obwohl es (ich schwöre!) nicht meine eigene Schuld war.

Der sachverständige Glaser teilte mir später bei der Besichtigung folgenden Sachverhalt mit:
Jaja, er glaube schon, dass ich die scharfkantige Glitzerwand nicht selbst geschaffen habe und dass solche rätselhaften Phänomene in seiner zerbrechlichen Glaswelt schon öfters vorkämen als man denkt und man müsse zur Überprüfung mikroskopisch nahe an die Struktur der unwissend gekauften ESG-Scheibe herantreten.
ESG sei die Kurzformel für Einscheiben-Sicherheitsglas, das nicht nur für die Autoindustrie, (hier aber nur die Seitenscheiben) produziert würde, sondern eben auch für Duschtrennwände, damit im Falle eines Zusammenbruchs der zarte menschliche Körper, so er sich zeitgleich in der Duschkabine befindet, nicht durch übergroße Splitter in der Haut verunstaltet würde. Mir reichte schon der Gedanke an meine Fußsohlen, falls ich den ersten Scheibenknall überlebt hätte, und ich quer durchs Bad zum Handtuch hätte schweben müssen, ohne blutige Füße zu bekommen…
Zurück zu den Fakten der ESG-Chemie: Bei der Herstellung der Schmelze bei Glasscheiben werden unvermeidlich und unsichtbar gelegentlich Moleküle von Nickelsulfid mit eingeschlossen. Diese Moleküle haben die Eigenschaft, sich manchmal in der Gesellschaft der Glasmolekül-Nachbarn nach einer ungewissen Zeit auszudehnen und schließlich einen sogenannten Spontanbruch zu verursachen, ohne dass der Mensch sich dem zersplitternden Gegenstand auch nur genähert hätte.
Fest stehe, so später mein Versicherungsmakler, dass sich in einem solchen Fall keine Hausrat-Versicherung bereit erklärt, den entstandenen Glasschaden zu übernehmen, denn dieser sei wie bei fast allen Policen dieser Art ausgeschlossen. Zu meiner Frage, wie ich in Zukunft solche unschönen und auch kostspieligen Vorfälle vermeiden könne, meinte der Glaser wiederum, es gäbe einen sogenannten Heißlagerungstest, den man die Scheiben nach der standardisierten Herstellung noch einmal unterziehen kann, um sicher zu gehen, dass die Scheibe auch nach Einbau am Ort der Wahl des Besitzers auch weiterhin friedlich ihren Dienst tut, ohne am Tage X mit einem lauten Knall zu zerplatzen. Das Aufheizen auf bis zu 300 Grad für über zwei Stunden nach der eigentlichen Glasherstellung habe aber nun mal seinen Extra-Preis und die wenigsten Konsumenten wissen A) davon und B) wären sie bereit, dafür tief in die Tasche zu greifen, nachdem sie ja nicht wissen können, ob sie soeben möglicherweise eine mörderische Sprengbombe erworben haben.
Nun, auf diese fast schmerzhaften Erlebnisse und Fachvorträge schlau gemacht, entschied ich mich bei der Nachbestellung für eine wärmebehandelte Glasscheibe, die sich äußerlich nicht von der vorhergegangenen unterscheidet. Aber manchmal stehe ich noch mit der Lupe an der anderen Glaswand, die mein Dusch-Eck abgrenzt, ob sich da nicht doch gerade so ein terroristisches Nickelsulfid-Molekül breit macht.